Karin Holl
Mikrohistorikerin
Zu meinen liebsten Kindheitserinnerungen gehören die Geschichten
meiner Oma. Mit ihren Erzählungen verstand sie es, ihre eigene Kindheit
Ende des 19. Jahrhunderts vor meinen Augen lebendig werden zu lassen.
Staunend hörte ich von einer Zeit, in der man das Wasser vom Dorfbrunnen
holen musste, es keine Elektrizität und keine Autos gab. Dennoch
dachte Oma mit Freude an diese Zeit zurück und weckte so in mir das
Interesse an das Leben in früheren Zeiten. Im Geschichtsunterricht
lernt man viel über die großen politischen Ereignisse; es bleibt
kaum Zeit, über ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung einzugehen.
Als ich vor 25 Jahren begann, mich mit meinen Vorfahren zu beschäftigen,
interessierte mich vor allem dieser Aspekt. Dabei beschränkte ich
mich auf die Personen, die in meinem Heimatdorf Guntersblum lebten. Die
umfangreichen und gut erhaltenen Gemeindearchivalien ermöglichten
mir, vieles darüber herauszufinden.
Guntersblum gehörte seit etwa 1240 zur Grafschaft Leiningen, ein
kleineres Gebiet neben einem großen Nachbarn, der Kurpfalz. Alles, was
die Kurpfalz betraf, wirkte sich auch auf Leiningen aus. Im
reichhaltigen fürstlich leiningischen Archiv in Amorbach fand ich die
Gründe, warum die regierenden leiningischen Grafen vor dem pfälzischen
Erbfolgekrieg ihr Land verließen und so ihre Untertanen den
Übergriffen der Franzosen auslieferten, was für einige meiner
bäuerlichen Vorfahren den Tod bedeutete; oder, warum danach die
gräfliche Kasse so leer war, dass z. B. die Dienerschaft oft nicht
bezahlt wurde, wozu ein anderer Vorfahr gehörte. Wieder ein anderer
verließ die Grafschaft aus Angst vor Repressalien, weil er zuviel
über die üblen Verhaltensweisen eines weiteren Grafen wusste.
Genau wie meine Oma erzählte ich da und dort meine Geschichten, bis
mir ein Freund riet, sie aufzuschreiben. So entstanden neben einigen
Artikeln in den Jahrbüchern des Landkreises Mainz-Bingen die größeren
Abhandlungen "Guntersblumer Geschichte(n)" (1997), "Kreißler -
Chrysler, eine Auswanderungsgeschichte" (2001) und "Guntersblum, vom
leiningischen Dorf zur Residenz" (2008).
Aufgewachsen im ehemals leiningischen Guntersblum und nach mehreren
Jahren im pfälzischen Frankenthal lebe ich heute wieder in einem
ehemals leiningischen Dorf, Mühlheim. Damit bin ich gewissermaßen
wieder in das Land meiner Vorfahren zurückgekehrt.